1989: Der rot-grüne Senat / Das „Feminat“

Nach acht Jahren in der Opposition ging die SPD aus den Wahlen zum Abgeordnetenhaus am 29. Januar 1989 überraschend als Siegerin hervor. Im Vorfeld war die Bestätigung des schwarz-gelben Senats von Eberhard Diepgen erwartet worden. Tatsächlich konnte die CDU mit 37,7 % die meisten Stimmen verzeichnen – knapp vor der SPD mit 37,3%. Die FDP erlitt aber einen Einbruch auf 3,9% und war nicht mehr im Parlament vertreten. Allgemeines Entsetzen rief der Wahlerfolg der Republikaner mit 7,5 % hervor, zu denen wohl einige Wähler/innen der Liberalen gewandert waren.
Im Wahlkampf hatte Walter Momper den Berliner Grünen, der Alternativen Liste (AL), noch fehlende Koalitionsfähigkeiten attestiert. Ihre 11,8 % aber machten sie zum attraktiven Partner, nachdem die Verhandlungen mit der CDU von der SPD alsbald für gescheitert erklärt wurden. Der Zeitgeist wollte Erneuerung. Die aus der Opposition kommende beschritt mit neuem Personal innovative Wege und ermöglichte mit Verweis auf das Vorbild des hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner den ersten rot-grünen Senat Berlins.

Norbert Meisner, 1989-1991 Finanzsenator

Die Koalition wurde von der SPD „generalstabsmäßig vorbereitet“ (Norbert Meisner). Die noch junge AL umgab der Nimbus von Anarchismus. Vor allem in der Haltung zur DDR hatte sie äußerst progressive Positionen entwickelt. Daher waren es drei Essentials, an die die SPD die Zusammenarbeit mit den Grünen knüpfte. Die AL hatte den Besatzungsstatus Berlins und die Präsenz der Alliierten in der Stadt anzuerkennen, desweiteren die Bindung an die Bundesrepublik sowie das staatliche Gewaltmonopol.
Auch mit diesen Zugeständnissen war die Koalition mit der AL umstritten – innerhalb wie außerhalb der SPD. Um diesem parteipolitischen Probelauf eine größere Basis zu geben, wurde er eng an den gesellschaftlichen Fortschritt gebunden: Erstmals in der Geschichte Berlins und auch Deutschlands bildeten Frauen die Mehrheit in einer Landesregierung.

Anna Damrat, 1990-2000 Vorsitzende der Berliner ASF (Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen)

Acht Frauen übernahmen in diesem „Feminat“ nicht nur die klassischen Senatsverwaltungen für Frauen, Jugend und Familie (Anne Klein), Gesundheit und Soziales (Ingrid Stahmer) und Kultur (Anke Martiny), sondern auch Justiz (Jutta Limbach), Wissenschaft und Forschung (Barbara Riedmüller-Seel) und Bundesangelegenheiten (Heide Pfarr). Drei Senatorinnen, davon zwei parteilos, vertraten die AL (Michaele Schreyer für Stadtentwicklung und Umweltschutz; parteilos neben Anne Klein Sybille Volkholz für Schulwesen, Berufsbildung und Sport). Neben Walter Momper als Regierendem Bürgermeister waren fünf Senatsposten mit Männern besetzt. Die acht Frauen stärkten sich gegenseitig und sprachen ihr Vorgehen im so genannten „Hexenfrühstück“ ab, das seit dem Amtsantritt am 17. März 1989 regelmäßig vor den Senatssitzungen stattfand.
Die Koalition von 1989 führte einen neuen Politikstil und neue Themen in die Berliner Parlamentslandschaft ein. „Berlin ist Aufbruch“ betitelte Walter Momper dann auch seine Antrittserklärung und benannte neben den beständigen Aufgaben der wirtschaftlichen Entwicklung und der Schaffung von Arbeitsplätzen vor allem den sozialen, ökologischen und gesellschaftlichen Fortschritt als seine grundlegende Zielsetzung.

Norbert Meisner, 1989-1991 Finanzsenator

Das rot-grüne „Feminat“ hatte eine historische innenpolitische Tragweite. Diese weitete sich außenpolitisch aus, als die Mauer fiel und sich nicht nur die beiden Hälften Berlins, sondern auch die Deutschlands und Europas unerwartet schnell annäherten.
Von der großen Symbolik der Wiedervereinigungspolitik konnten Walter Momper und die SPD allerdings nicht dauerhaft zehren. Nur 20 Monate hielt die rot-grüne Regierung. Helmut Schmidt hatte Momper zum Amtsantritt zu seinem „schwierigen Vorhaben“ mit den Worten gratuliert: „Du wirst sehr viel Geschick und noch mehr Glück gebrauchen, um die Koalition vier Jahre lang nicht nur zusammenzuhalten, sondern auch zu Erfolgen zu führen“(1). Das Glück verließ die Koalition, als nach der Räumung der besetzten Häuser in der Mainzer Straße (Berlin-Friedrichshain) die AL am 19. November 1990 ihren Austritt erklärte. Aus den vorgezogenen Neuwahlen vom 2. Dezember 1990, den ersten in Gesamt-Berlin seit 1946, ging wieder die CDU als klarer Sieger hervor.

 

1 Brief Schmidt an Momper 16.3.89; LArch E Rep. 300.89 Nr. 85

Die Frage der Wiedervereinigung
1989: Der rot-grüne Senat / "Das Feminat"
Teilung und Alltag
Migrationspolitik in Berlin
1968: Höhepunkt der Flügelkämpfe
Mauerbau
1958: Der Wechsel an der Spitze von Franz Neumann zu Willy Brandt
Die Falken
1945-1961: Die SPD in Ostberlin
1946: "Zwangsvereinigung" und Urabstimmung
1945: Wiedergründung der SPD